Stress im Praxisalltag? So können wir ihm wirksam begegnen
Veröffentlicht am 25/10/2024
Burnout und psychische Erkrankungen bei Ärztinnen und Ärzten steigen besorgniserregend. Stress ist ständiger Begleiter in der Praxis. Doch was sind die Hauptauslöser der Überforderung in der Praxis? Ist Stress immer nur negativ? Mit welchen Mitteln können Ärztinnen und Ärzte ihren Arbeitsalltag entspannter gestalten?
Antworten auf diese und weitere Fragen gibt uns die Psychologin und Resilienz-Trainerin Nadja Gajić lic. phil. im Interview, das die Basis dieses Artikels bildet.
Der Stress und seine vielen Gesichter: Stressoren in der Praxis
Zuerst einmal lassen sich Stressoren in verschiedene Kategorien einteilen, wobei im Praxisalltag die aufgabenbezogenen und arbeitsbezogenen Stressoren besonders verbreitet sind.
Aufgabenbezogene Stressoren: Zeitdruck, Arbeitsüberlastung, Aufgabenkomplexität, ständige Unterbrechungen, unvollständige Informationen (in grösseren Teams/Institutionen)
Arbeitsbezogene Stressoren: Schichtdienst, lange Arbeitszeiten, Überstunden
Rollenstressoren: Rollenunsicherheit, Rollenkonflikte, Rollenüberforderung
Soziale Stressoren: Konflikte, Mobbing, sexuelle Belästigung, Umgang mit schwierigen Patient:innen
Physiche Stressoren: Lärm, nicht ergonomische Arbeitsplatzgestaltung
Gajić merkt an, dass diese Belastungssituationen sich potentiell immer auch auf Bereiche ausserhalb der Arbeit ausweiten können. Bei ständigen Überstunden bspw. bleibt die Familie auf der Strecke. Das erhöht den Druck zusätzlich, schürt Konflikte und löst Stress aus.
Ist Stress besser als sein Ruf?
Sprechen wir im Alltag von Stress, dann meinen wir damit meist einen Zustand, den wir als negativ erleben. Gajić erklärt jedoch, dass Stress nicht gleich Stress, sondern sehr individuell ist:
„Stress ist ein Ungleichgewicht zwischen inneren und äusseren Anforderungen und unseren persönlichen Handlungsmöglichkeiten. Verschiedene Menschen können objektiv gleiche Belastungen subjektiv unterschiedlich empfinden. Entscheidend ist die individuelle Bewertung der Gegebenheiten.”
Dieses unterschiedliche Empfinden erklärt, warum Stress positiv oder negativ wirken kann. Negativ wirkt er dabei meist in der Kombination mit inneren Anforderungen wie übertriebenem Leistungsstreben, Perfektionismus und überhöhtem Verantwortungsbewusstsein. Stress führt hier zu Anspannung und letztlich sogar zu schlechteren Resultaten, denn unter Stress setzt das kognitive Denken als erstes aus.
Und trotzdem: Ein gewisses Mass an Stress ist lebenswichtig, man spricht von mittlerer Aktivierungsenergie. Sind wir in diesem Modus, können wir die beste Leistung erbringen. Gajić erklärt:
„Wir sind zufrieden, wenn der Tag mit anregender Arbeit ausgefüllt war, wenn wir uns mit ganzer Kraft erfolgreich für eine Sache eingesetzt haben. Das ist die positive Seite des Stresses. Während negativer Stress zu Anspannung (und in der Folge zu Kampf und Flucht führt), resultieren aus positivem Stress Motivation und Energie.”
Selbständige unter erhöhtem Druck?
Als selbstständige/r Praxisinhaber:in hat man mehr Freiheiten, gleichzeitig mehr Verantwortung und finanziellen Druck als ein Angestellter oder ein Mitglied in der Gruppenpraxis im Angestelltenverhältnis. Gemäss Gajić führt die Selbstständigkeit aber nicht zwingend zu einem erhöhten Stressempfinden. Es kommt immer auf die Persönlichkeit der Person an, denn Stress ist etwas sehr Individuelles. Entscheidend ist, welche Erfahrungen man in seinem bisherigen Arbeitsleben gemacht hat. Hat jemand in seiner Zeit als Assistenzarzt in einem Team gearbeitet, in der die Atmosphäre von Konkurrenzdenken und Mobbing geprägt war, bedeutet eine Selbstständigkeit plötzlich viel mehr Freiräume, einen Spielraum, der positiv wahrgenommen werden kann. Ein Arzt jedoch, der jahrelang positive Erfahrungen in einem Team gemacht hat und sich an eine Aufgabenteilung gewöhnt ist, würde sich womöglich als selbständiger unter Druck und gestresst fühlen.
Flexibilität im Umgang mit Stress ist erlernbar
Äussere Anforderungen und Gegebenheiten können Ärzte und Ärztinnen nur bedingt beeinflussen, darunter eine überdurchschnittliche Arbeitsbelastung, Zeitdruck und grosse Verantwortung. Dies bedeutet aber nicht, dass Ärztinnen und Ärzte machtlos sind. Je flexibler wir auf Stress reagieren können, desto mehr Handlungsspielräume haben wir letztlich. Die Expertin sagt:
„Je mehr Bewältigungsstrategien ein Mensch beherrscht, desto flexibler kann er auf Stress reagieren.”
Ohne grossen Aufwand in den Alltag integrierbar sind achtsame Momente, in denen wir unsere Aufmerksamkeit bewusst ausrichten. Dabei können Sie sich fragen: Wofür bin ich heute dankbar? Was ist mir heute besonders gut gelungen? Eine weitere Möglichkeit, gelassener durch den Praxisalltag zu kommen, sind Pausen. Die Pausen sollen aber echt sein. Am besten werden sie ausserdem verbindlich eingeplant.
Solche bewusste Momente machen bereits einen Unterschied. Wer langfristig Resilienz aufbauen möchte, muss üben – und dies ein Leben lang. Resilienz und eine wirksame Stressbewältigung sind gemäss Gajić nicht an ein Alter gebunden. Neuroplastizität kann durch entsprechende Lernerfahrungen bis ins hohe Alter angeregt werden. Nur wer seinen täglichen Herausforderungen in der Praxis mit Offenheit und Akzeptanz begegnet, kann sich persönlich weiterentwickeln und flexibler im Umgang mit Stress werden.